Sonntag, 6. Juli 2014

Wenn die Seele dick macht


Wenn die Seele dick macht



Hirnforscher entschlüsseln, wie Fettleibigkeit im Kopf entsteht - ausgelöst durch Stress und andere psychische Ursachen.



Zum ersten Mal in der Geschichte leiden genauso viele Menschen an Übergewicht wie an Unterernährung. In Ländern wie Deutschland stellen die Dicken sogar die Mehrheit. Jeder fünfte Deutsche gilt nicht mehr nur als übergewichtig, sondern als fettleibig, und schon bei den Jugendlichen ist es fast jeder zehnte.



1,4 Milliarden Erwachsene gelten inzwischen als zu schwer, 2,8 Millionen Menschen sterben jährlich an den Folgen ihrer überschüssigen Fettpolster. Die Liste der Risiken ist lang: Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes Typ 2, Gelenkschmerzen, Brust- und Darmkrebs, Alzheimer und Unfruchtbarkeit.

Doch so einfach ist es offenbar nicht. In den vergangenen Jahren haben die Mediziner einen Paradigmenwechsel vollzogen. Dickwerden, sagen sie heute, hat weniger körperliche als psychosoziale Ursachen.

Bei fast allen Betroffenen läuft es ab wie vielen anderen auch: Sie bringen eine erbliche Veranlagung mit; aber dann kommen die Lebensumstände hinzu: Stress, Existenzangst, Armut, Überforderung, Prägungen in der Kindheit, Einsamkeit, Traumata - die Liste der seelischen Dickmacher ist lang.

Der Hirnforscher Achim Peters von der Universität Lübeck sieht im Dauerstress, unter dem viele leiden, die Hauptursache der Fettleibigkeit. "Wenn ich meine dicken Patienten frage: ,Was tragen Sie für eine Last?', dann wissen die meisten ziemlich genau, wo ihre Sorge liegt", sagt Peters.

"Die Rolle des Gehirns bei der Entstehung von Übergewicht wurde bislang unterschätzt", bestätigt Matthias Tschöp, Direktor des Instituts für Diabetes und Adipositas am Helmholtz-Zentrum in München. Und sein Kollege Jens Brüning, Direktor des Max-Planck-Instituts für Neurologische Forschung in Köln, konstatiert: "Für uns ist jetzt die zentrale Frage, wie das Gehirn auf die Regelkreise von Hunger und Sättigung einwirkt."



Noch bis vor wenigen Jahren gingen die Mediziner davon aus, dass die Essensaufnahme ähnlich simpel gesteuert wird wie eine Heizungsanlage: Ist der Magen leer, sorgen Botenstoffe dafür, dass Hungergefühl entsteht - und sogleich wird der Magen wieder gefüllt. Sinkt der Blutzuckerspiegel oder leeren sich die Fettdepots, wird dies ebenso nach oben gemeldet: Auch dann nimmt der Hunger wieder zu.

Dass solche einfachen Regelkreise nicht die ganze Wahrheit erzählen können, ist den Medizinern schon länger klar. Denn Menschen haben nicht nur Hunger, sondern auch Appetit. "Jeder kennt das Phänomen, dass er eigentlich satt ist, aber trotzdem weiterisst", sagt Neurowissenschaftler Brüning. "Weil er frustriert ist, weil er in fröhlicher Gesellschaft isst, weil es gut schmeckt. Offenbar nehmen höhere Gehirnzentren massiven Einfluss auf diese Regelkreise - unabhängig vom objektiven Sättigungsgrad."

Wie Neurowissenschaftler vor allem in den vergangenen fünf Jahren herausgefunden haben, wird der Appetit von den stärksten Lust- und Frustzentren gesteuert, die es im Gehirn gibt. Die Fettsucht wird also offenbar von genau jenen Hirnregionen befeuert, die beim Orgasmus aktiv sind, beim Heroin-Kick oder im Rausch der Verliebtheit - die aber auch bei Depressionen, chronischem Stress und Burnout eine entscheidende Rolle spielen. Der alte Sinnspruch "Essen ist der Sex des Alters" bekommt damit eine neue Bedeutung. Und die Entstehung von "Frustessen", "Kummerspeck" und "Stressessen" lassen sich nun auf neuronaler Ebene entschlüsseln.



Aus Sicht der Mediziner ist der bekannte Body-Mass-Index daher überholt, um das individuelle Risiko durch Übergewicht abzuschätzen. Weitaus aussagekräftiger wäre ein Wert, bei dem auch die Verteilung des Körperfetts berücksichtigt wird - beispielsweise der Taillen-Hüft- oder der Taillen-Größen-Quotient.


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