Wenn die Seele dick macht
Hirnforscher entschlüsseln, wie
Fettleibigkeit im Kopf entsteht - ausgelöst durch Stress und andere psychische
Ursachen.
Zum ersten Mal in der Geschichte leiden
genauso viele Menschen an Übergewicht wie an Unterernährung. In Ländern wie
Deutschland stellen die Dicken sogar die Mehrheit. Jeder fünfte Deutsche gilt
nicht mehr nur als übergewichtig, sondern als fettleibig, und schon bei den
Jugendlichen ist es fast jeder zehnte.
1,4 Milliarden
Erwachsene gelten inzwischen als zu schwer, 2,8 Millionen Menschen sterben
jährlich an den Folgen ihrer überschüssigen Fettpolster. Die Liste der Risiken
ist lang: Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes Typ 2, Gelenkschmerzen, Brust-
und Darmkrebs, Alzheimer und Unfruchtbarkeit.
Doch
so einfach ist es offenbar nicht. In den vergangenen Jahren haben die Mediziner
einen Paradigmenwechsel vollzogen. Dickwerden, sagen sie heute, hat weniger
körperliche als psychosoziale Ursachen.
Bei
fast allen Betroffenen läuft es ab wie vielen anderen auch: Sie bringen
eine erbliche Veranlagung mit; aber dann kommen die Lebensumstände hinzu:
Stress, Existenzangst, Armut, Überforderung, Prägungen in der Kindheit,
Einsamkeit, Traumata - die Liste der seelischen Dickmacher ist lang.
Der
Hirnforscher Achim Peters von der Universität Lübeck sieht im Dauerstress,
unter dem viele leiden, die Hauptursache der Fettleibigkeit. "Wenn ich
meine dicken Patienten frage: ,Was tragen Sie für eine Last?', dann wissen die
meisten ziemlich genau, wo ihre Sorge liegt", sagt Peters.
"Die Rolle des Gehirns bei der
Entstehung von Übergewicht wurde bislang unterschätzt", bestätigt Matthias
Tschöp, Direktor des Instituts für Diabetes und Adipositas am Helmholtz-Zentrum
in München. Und sein Kollege Jens Brüning, Direktor des Max-Planck-Instituts
für Neurologische Forschung in Köln, konstatiert: "Für uns ist jetzt die
zentrale Frage, wie das Gehirn auf die Regelkreise von Hunger und Sättigung
einwirkt."
Noch
bis vor wenigen Jahren gingen die Mediziner davon aus, dass die Essensaufnahme
ähnlich simpel gesteuert wird wie eine Heizungsanlage: Ist der Magen leer,
sorgen Botenstoffe dafür, dass Hungergefühl entsteht - und sogleich wird der
Magen wieder gefüllt. Sinkt der Blutzuckerspiegel oder leeren sich die
Fettdepots, wird dies ebenso nach oben gemeldet: Auch dann nimmt der Hunger
wieder zu.
Dass
solche einfachen Regelkreise nicht die ganze Wahrheit erzählen können, ist den
Medizinern schon länger klar. Denn Menschen haben nicht nur Hunger, sondern
auch Appetit. "Jeder kennt das Phänomen, dass er eigentlich satt ist, aber
trotzdem weiterisst", sagt Neurowissenschaftler Brüning. "Weil er
frustriert ist, weil er in fröhlicher Gesellschaft isst, weil es gut schmeckt.
Offenbar nehmen höhere Gehirnzentren massiven Einfluss auf diese Regelkreise -
unabhängig vom objektiven Sättigungsgrad."
Wie Neurowissenschaftler vor allem in den
vergangenen fünf Jahren herausgefunden haben, wird der Appetit von den
stärksten Lust- und Frustzentren gesteuert, die es im Gehirn gibt. Die
Fettsucht wird also offenbar von genau jenen Hirnregionen befeuert, die beim
Orgasmus aktiv sind, beim Heroin-Kick oder im Rausch der Verliebtheit - die
aber auch bei Depressionen, chronischem Stress und Burnout eine entscheidende
Rolle spielen. Der alte Sinnspruch "Essen ist der Sex des Alters"
bekommt damit eine neue Bedeutung. Und die Entstehung von
"Frustessen", "Kummerspeck" und "Stressessen"
lassen sich nun auf neuronaler Ebene entschlüsseln.
Aus Sicht der Mediziner ist der bekannte
Body-Mass-Index daher überholt, um das individuelle Risiko durch Übergewicht
abzuschätzen. Weitaus
aussagekräftiger wäre ein Wert, bei dem auch die Verteilung des Körperfetts
berücksichtigt wird - beispielsweise der Taillen-Hüft- oder der
Taillen-Größen-Quotient.
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